Bericht zum Zweiten Fachaustausch des Forum PolBNT

Berlin, 22.-23. Februar 2024

Das zweite Treffen des Forums „PolBNT“ fand vom 22. bis 23. Februar in Berlin zum Thema „Politische Bildung durch und für nachhaltige Entwicklung – zwischen Normativität, Kritik und Pädagogisierung der Krise“ statt.

Zusätzlich zu den bestehenden Forumsmitgliedern waren auch externe Expert*innen aus verschiedenen Feldern eingeladen. Prof. Dr. Bernd Overwien der Humboldt-Universität Berlin, Nilda Inkermann, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel und Teil des ILA Kollektivs und mit einem Forschungsinteresse im Bereich der kritisch-emanzipatorischen Bildung in Bezug auf BNE und globales Lernen, Dr. Johanna Weselek mit dem Schwerpunkt kritischer Bildung für nachhaltige Entwicklung sowie Dr. Luisa Girnus mit dem Fokus auf Politische Bildung und Lernen im sozialwissenschaftlichen Kontext bereicherten mit verschiedenen Impulsen den Fachaustausch.

hintere Reihe v. l. n. r.: Steve Kenner, Michael Nagel, Claudia Bergmüller-Hauptmann, Nilda Inkermann, Bernd Overwien, Dirk Posenau, Denise Flämig
vordere Reihe v. l. n. r.: Niklas Geiger, Hanna Butterer, Johanna Weselek, Natali Rezwanian-Amiri, Mandy Singer-Brodowski, Sabine Achour

Nach einem kurzen Austausch und einer gemeinsamen Reflexion des letzten Treffens führte Bernd Overwien mit dem ersten Impuls „Politische Bildung und BNE- (historisch) Beziehung der Querschnittsaufgaben“ in das Thema ein.Anschließend an diese Einführung wurden die Ursprünge der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ sowie „Politischer Bildung“ diskutiert. Die Forumsmitglieder verdeutlichten die Verbindung von BNE und Politischer Bildung und hielten fest, dass interdisziplinäre Perspektiven, welche früher geringe Relevanz hatten, heute wichtiger denn je seien und beide Konzepte als Querschnittsdisziplinen zusammengedacht werden müssen.

Weiterhin stand die Frage im Raum, welche möglichen Hindernisse BNE als übergreifende Disziplin über Globalem Lernen, Umweltbildung, Antirassismusbildung usw. mit sich bringe. Inwiefern tragen unscharfe Grenzen als fehlende Abgrenzung dieser Disziplinen dazu bei, dass BNE als idealisierte und damit möglicherweise auch instrumentalisierte Funktion vermeintlicher Lösung gegenwärtiger Krisenverhältnisse in der Bildungsarbeit erscheint? Die Teilnehmenden des Fachforums tauschten sich über die Individualisierungsfalle von BNE aus und die allgemein hohen Ansprüche an das verändernde Handeln von Individuen, die besonders im Schulkontext häufig thematisiert werden. Im Schulkontext fehlen dabei vor allem (Frei-)Räume für kritische Selbstreflexion. Dabei wurde sowohl der „Beutelsbacher Konsens“als auch die „Frankfurter Erklärung für eine kritisch-emanzipatorische politische Bildung“ als grundlegende Prinzipien und Standards der Politischen Bildung diskutiert. Ein besonderer Fokus der Diskussion lag auf dem Kontroversitätsgebot des „Beutelsbacher Konsens“ und dessen Umsetzung. Die Forumsteilnehmenden tauschten sich über die häufig bestehende Angst von Lehrkräften vor dem vermeintlichen Neutralitätsgebot aus und inwieweit diesem begegnet werden kann. Dabei wurde darauf verwiesen, dass Demokratie politische Bildung benötige und diese nie neutral sein könne. Es wurden Fragen nach dem Maße der Kontroversität bestimmter Perspektiven thematisiert und inwieweit Kriterien für Kontroversität und ihre Komplexität notwendig seien. Des Weiteren wurde der Unterschied zwischen Kontroversität und tatsächlich kritischem Handeln herausgearbeitet und festgehalten, dass eine Hierarchisierung von Themen nicht bedeutet, dass Perspektiven ausgespart werden sollten.

Das erste Diskussionspanel mit Hanna Butterer, Nilda Inkermann und Prof. Dr. Mandy Singer-Brodowski beschäftigte sich mit bildungstheoretischen Zugängen und Prinzipien. Inwieweit können Perspektiven der Politischen Bildung dazu beitragen, Macht und Herrschaft sowie Widersprüche innerhalb der BNE mit dem normativen Ziel der Nachhaltigkeit zu thematisieren, besonders im Hinblick auf bestehende Widersprüche und einer etablierten Nicht-Nachhaltigkeit? Bildung kann in diesem Bereich nicht als universale Lösung betrachtet werden, sondern muss in ihrer Verstrickung in hegemoniale und imperiale Strukturen betrachtet werden, in denen sie Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten auf nationaler und globaler Ebene reproduziert. 

Nilda Inkermann

Welchen infrastrukturellen Einschränkungen begegnet Bildung und inwieweit kann Bildung in diesem Kontext selbst als infrastruktureller Einflussfaktor als Funktion in Gesellschaft wahrgenommen werden? Diese und weitere Fragen wurden diskutiert. Die Teilnehmenden sprachen darüber hinaus über die Gefahren des adultistischen Bildungsansatzes und damit verbundenen Frustrationserfahrungen von Lernenden. Eine Möglichkeit stelle das projektorientierte Lernen dar, bei dem Lehrkräfte vor allem eine begleitende Funktion übernehmen. Doch auch in diesem Bereich unterliegen Lehrkräfte externen Zwängen und den Herausforderungen aufgrund bislang fehlender weitreichender Fortbildungsangebote.

Das zweite Diskussionspanel des Forums PolBNT wurde geprägt durch Impulse von Prof. Dr. Claudia Bergmüller-Hauptmann, Dr. Luisa Girnus, Michael Nagel und Dr. Johanna Weselek unter Berücksichtigung empirischer Befunde und Beobachtungen. Es wurden drei Ebenen der Wirkungsforschung diskutiert und die erschwerte Evaluation der Bildungsqualität erörtert, wobei bei Lernenden eine große Spannbreite von Verhaltensweisen und möglichen Veränderungen auftritt. Weiterhin tauschten sich die Forumsteilnehmenden über die Bildungsarbeit von NGO’s an Schulen aus, welche ebenso von dem Mythos Neutralitätsgebot betroffen sind. Lehrkräfte seien hinsichtlich der Vermittlung von BNE-Maßnahmen oder Nachhaltigkeitsthemen häufig überfordert, weswegen sie sich nur selten positionieren und die politische Dimension von Nachhaltigkeitsfragen eher aussparen. In vielen Fällen werden BNE-Maßnahmen außerhalb vom Unterricht in AGs durchgeführt, die von einzelnen motivierten Lehrkräften verantwortet werden. Im Hinblick darauf, dass bezüglich dieses Themas Politische Bildung und BNE immer häufiger als Querschnittsdisziplinen wahrgenommen werden, muss auch für Lehrkräfte und weitere Bildner*innen ein Raum für Austausch und Reflexion geschaffen werden. BNE steht dabei auch weiterhin als Bildungskonzept im Kontext einer multiplen Krise und kann deswegen eher als Gestaltungsprozess wahrgenommen werden.

Am zweiten Tag des Fachaustauschs hat sich das Fachforum PolBNT mit praktischen Zugängen und den Chancen kooperativer politischer Bildung auseinandergesetzt. Dazu moderierte Prof. Dr. Sabine Achour einen Rückbezug zur Praxis aus den theoretischen Beiträgen vom Vortrag mit neuen Impulsen von Dirk Posenau und Natali Rezwanian-Amiri. Auch hier einigten sich die Forumsteilnehmenden auf den höheren Bedarf an Wirkungsforschung und Evaluation hinsichtlich der BNE-Maßnahmen. Dadurch können klarere Erwartungen an Bildungskonzepte formuliert werden. Die Teilnehmenden diskutierten weitergehend die Chancen und Herausforderungen partizipativen Lernens und die Auswirkungen von Kurz- und Langzeitformaten im Bereich der politischen Bildung für nachhaltige Entwicklung. Aktuell sei der Fokus auf das Individuum noch sehr groß, da im Hinblick auf persönliche Handlungsentscheidungen auch leicht messbare Fortschritte in kürzester Zeit erreicht werden können. Außerdem begünstigen gegebene Projektförderstrukturen, externe Begrenzungen in Bezug auf Zeit und Themen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse und der Fachkräftemangel den Schwerpunkt auf individuelle Maßnahmen, die als kurzzeitpädagogische Maßnahmen umgesetzt werden. Der hohe administrative Aufwand aufgrund standardisierter Vorher-Nachher-Befragungen und Sachberichten fördert individuelle Perspektiven hinsichtlich BNE. Politische Bildung für nachhaltige Entwicklung bewegt sich hier in einem Spannungsfeld zwischen dem Selbstanspruch von Bildner*innen, äußeren Zwängen und externen Förderlogiken, als Teil institutionalisierter und hegemonialer Strukturen. Die Forumsmitglieder diskutieren darüber, wie außerschulische Lernorte stärker im schulischen Lernen verankert, und wie Freiräume für außerschulische Bildungsarbeit und Utopiedenken eröffnet werden können.

Das Forum endet mit gemeinsamen Gedanken über die Rolle von Emotionen in der Politischen Bildung und der Entwicklung offener und von Diversität geprägten Bildungsgelegenheiten.


Empfehlungen für vertiefende Literatur

Abs, Hermann Josef;  Hahn-Laudenberg, Katrin (Hrsg.): Das politische Mindset von 14‐Jährigen. Ergebnisse der International Civic and Citizenship Education Study 2016. Waxmann. Münster.
Abs, Hermann Josef; Hahn-Laudenberg, Katrin; Deimel, Daniel; Ziemes, Johanna F. (Hrsg.) (2024): ICCS 2022. Schulische Sozialisation und Politische Bildung von 14-Jährigen im internationalen Vergleich. Waxmann. DOI:10.31244/9783830998228
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Bergmüller, C., Causemann, B., Höck, S., Krier, J.-M. & Quiring, E. (2019): Wirkungsorientierung in der entwicklungspolitischen Inlandsarbeit. Münster, New York: Waxmann.
Bergmüller, C., Causemann, B., Höck, S., Krier, J.-M. & Quiring, E. (2021): Quality and Impact in Global Education. Empirical and Conceptual Perspectives for Planning and Evaluation. Münster, New York: Waxmann.
Bergmüller, C. & Höck, S. (2024). Den Wirkungen der eigenen Bildungsarbeit auf der Spur. In Journal für politische Bildung, 2, Online verfügbar unter: https://www.journal-pb.de/Wozu-Evaluation/JpB2-24-Print-60098-PDF
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Brand, Ulrich; Alberto, Acosta (2018): Radikale Alternativen. Warum man den Kapitalismus nur mit vereinten Kräften überwinden kann. Oekom. München.
Brand, Ulrich; Wissen, Markus (2024): Kapitalismus am Limit. Öko-imperiale Spannungen, umkämpfte Krisenpolitik und solidarische Perspektiven. Oekom. München.
Butterer, Hanna (2024): Vom nachhaltigen Konsum zum politischen Konflikt: Skizzierung einer konfliktorientierten Bildung für nachhaltige Entwicklung. In: GLOBALES LERNEN FÜR RADIKALEN WANDEL: Bildung und die große sozial-ökologische und ökonomische Transformation. S. 39-43
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Hirsch, Anja (2019): Gemeinwohlorientiert und innovativ? Die Förderung politischer Jugendbildung durch unternehmensnahe Stiftungen. Transcript Verlag. Bielefeld.
Kater-Wettstädt, Lydia (2015): Unterricht im Lernbereich Globale Entwicklung. Der Kompetenzerwerb und seine Bedingungen. Waxmann. Münster.
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Kenner, Steve (2024): Klimawandel und Klimapolitik – ein Generationenkonflikt? Implikationen für eine transformative und adultismuskritische Bildung. In: Beutel, W. / Gloe, M. (Hrsg.): Konflikte. 2. Jahrbuch Demokratiepädagogik & Demokratiebildung. Wochenschau Verlag. Frankfurt am Main. S. 69-80
Kehren, Yvonne (2017): Bildung und Nachhaltigkeit. Zur Aktualität des Widerspruchs von Bildung und Herrschaft am Beispiel der Forderung der Vereinten Nationen nach einer ’nachhaltigen Entwicklung‘. In: Pädagogische Korrespondenz (2017) 55, S. 59-71
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Lepenies, Philipp (2022): Verbot und Verzicht. Politik aus dem Geiste des Unterlassens. Suhrkamp. Berlin.
Riess, Werner (2013): Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) und Förderung systemischen Denkens. – ANLiegen Natur 35: 55–64, Laufen.
Weselek, Johanna; Wohnig, Alexander (2020): Praxisvorstellungen und -erfahrungen von Studierenden und Referendar/-innen zur Umsetzung von Bildung für nachhaltige Entwicklung in Schule und Unterricht. Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften. 11. 72-90. 10.46499/1774.1728.