Unter dem Titel „Raus aus der Individualisierungsfalle?! Wissenschaft-Praxis-Transfer“ versammelte sich am 27. und 28. März 2025 das Forum PolBNT an der Universität Kassel. Die Gäst*innen Kai Niebert (Kuratoriumsvorsitzender der DBU und Professor für Didaktik der Naturwissenschaften und Nachhaltigkeit an der Universität Zürich), Maja Rentrop-Klewitz (Referentin im Bundesministerium für Bildung und Forschung und Mitglied im BNE Forum Schule), Inga Feuser (2. Vorsitzende der Teachers for Future e. V.), Klaus Schilling (Bundeskoordinator der UNESCO-Projektschule), Thomas Hohn (Bildungsreferent für Politik bei Greenpeace e. V.) und Marcel Hansek (wiss. Referent für die Fachstelle Politische Bildung) bereicherten das Forumstreffen mit vielseitigen Perspektiven.
Eröffnet wurde der Fachaustausch von JProf Dr. Steve Kenner (Projektleiter), der einleitend das Verhältnis von Politischer Bildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung bestimmte. In diesem Kontext verdeutlicht er die Schnittstellen beider Disziplinen und thematisiert, inwiefern politisch gedachte BNE partizipative Erfahrungsräume für Lernende ermöglicht.
Außerdem weist er auf die bestehende Materialsammlung und die ersten Folgen des Podcasts „PolBNT+“ hin.
Die Keynote von Prof. Dr. Kai Niebert rückte die gesellschaftliche Wahrnehmung und Kommunikation der Klimakrise in den Mittelpunkt. Basierend auf aktuellen Studien zeigte er, dass sich 50 % der Jugendlichen intensiv um den Klimawandel sorgen und 90 % der Gesellschaft eine umwelt- und klimafreundliche Umgestaltung der Wirtschaft durch die Politik befürworten – trotz der Angst vor steigenden Lebenshaltungskosten. Niebert betonte, dass die Leugnung des Klimawandels längst keine Randerscheinung mehr sei. Vielmehr entzündeten sich gesellschaftliche Spaltungen an den Fragen nach Verantwortung und geeigneten Maßnahmen. Er kritisiert den Fokus auf individuelles Verhalten in der Nachhaltigkeitsdebatte, obwohl laut einer Studie 71 % der Befragten die Gesellschaft als hauptverantwortlich für die Klimakrise sehen- ein Widerspruch, den er als zentrales Problem benennt. Niebert plädierte für eine partizipationsfähige politische Bildung und BNE, um Herausforderungen in einer Zeit multipler Krisen bewältigen zu können.
Im Zentrum der Diskussionen standen Fragen nach Machtverhältnissen, Teilhabe, und der Repräsentation von Entscheidungsträger*innen im Kontext politischer Bildung und BNE. Neben Fachwissen wurden emotionale Lernprozesse und Handlungsfähigkeit unter Unsicherheit betont. Der Fokus lag auf der Rolle von Bildungseinrichtungen und der Gestaltung politikwissenschaftlicher Grundlagen für Lehrkräfte in einem Spannungsfeld zwischen individueller und gesellschaftlicher Verantwortung. Dabei wurde deutlich, dass Nachhaltigkeit nicht allein auf das Engagement einzelner Akteur*innen abgewälzt werden kann. Vielmehr bedarf es kollektiven und strukturellen Veränderungen für eine nachhaltige Transformation– innerhalb und außerhalb des Bildungssystems. Die Forumsmitglieder betonten die Notwendigkeit praktikabler, niedrigschwelliger und interdisziplinärer Ansätze für Lehrkräfte, die normative Erwartungen kritisch thematisieren und gesellschaftspolitische Entwicklungen in den Unterricht integrieren. Bürgerschaftliches Engagement und partizipative Ansätze wurden als zentrale Elemente für politische Bildung hervorgehoben. Dabei spielt vor allem der Raum für Zukunftsszenarien und die Reflexion über multiple Zukünfte in der Bildungsarbeit eine entscheidende Rolle. Das Forum tauschte sich darüber aus, wie gesellschaftliche Strukturen bestimmte Nachhaltigkeitsdebatten prägen und welche Akteur*innen Einfluss auf die Priorisierung von Themen haben. Die enge Verknüpfung von Klima- und Wirtschaftsthemen sowie die Notwendigkeit, soziale und ökologische Fragestellungen gemeinsam lösungsorientiert zu denken, wurden hervorgehoben.
Im Anschluss berichtete Inga Feuser über die Entwicklung der „Teachers for Future“, die aus einer aktivistischen Bewegung hervorgingen und nun verstärkt strukturelle Ansätze und Empowerment in der Bildungsarbeit verfolgen.
Die Teilnehmenden diskutierten, wie politische Bildung für nachhaltige Entwicklung kritisch-emanzipatorisch gestaltet werden kann und welche Rolle Bildungsakteur*innen in einer polarisierten Gesellschaft spielen. Es wurde betont, dass Demokratiebildung als integraler Bestandteil der Bildung zu verstehen ist und es entscheidend sei, Konflikte in Bildungsprozessen aushalten zu können. Dabei spielt auch die Frage nach vermeintlicher Neutralität eine bedeutende Rolle, insbesondere in Bezug auf den Umgang mit rechten Positionen in schulischen Debatten. Politische Bildung bezieht sich dabei grundlegende auf freiheitlich-demokratische Werte und muss Haltung zeigen. Die Diskussion widmete sich der Weiterentwicklung demokratischer Prozesse und der Rolle der Schule als politischer Sozialisationsort. Dabei wurde auf die „Frankfurter Erklärung“ verwiesen, die explizit die Ermutigung zu politischer Veränderung als Bildungsauftrag benennt.
Das Forum verdeutlichte, dass die Diskursverschiebung nach rechts eine aktivere Positionierung und ein offensiveres Auftreten erfordert. Zudem wurde die Notwendigkeit einer stärkeren Unterstützung durch Schulaufsichtsbehörden betont, da viele rechtliche Rahmenbedingungen Auslegungssache seien und Unsicherheiten erzeugten. Neoliberale Tendenzen in Bildungsdebatten und Ängste in Verbindung mit Arbeitsmarktorientierung erschweren die Umstände für Lehrkräfte und lassen PB und BNE zunehmend wie ein „Add-On“ wirken. Die Teilnehmenden halten jedoch fest, dass politische Bildungsprozesse nicht nur über direkte Konfrontation stattfinden, sondern auch über indirekte Thematisierung wirksam sein können. Insbesondere die Fächer Kunst und Musik wurden als alternative Lernräume genannt, die neue Perspektiven eröffnen und den Blick auf gesellschaftliche Fragen erweitern können. Die Diskussion endete mit der Frage, wie BNE und Politische Bildung strukturell gestärkt werden können – sei es durch bildungspolitische Weichenstellungen, die Entwicklung passender Bildungsmaterialien oder rechtliche Gutachten, die Lehrkräfte in ihrer Arbeit unterstützen. Abschließend wurde darauf hingewiesen, dass BNE nicht nur in großen Initiativen, sondern auch durch kleinere, lokal verankerte Projekte globale Wirkung entfalten kann.
Das BNE Forum Schule sowie das Forum PolBNT planen weitere Möglichkeiten der gemeinsamen Zusammenarbeit und Zusammenführung ihrer Arbeit. Der Tag endete mit einem Impuls des Studienleiters des Ressorts „Politische Jugendbildung und Pädagogik“ Dr. Oliver Emde (Evang. Akademie Hofgeismar) zum Thema Kritische Stadtspaziergänge und einem interaktiven, politischen Stadtspaziergang durch die Innenstadt Kassel.
Am zweiten Tag des Fachaustauschs präsentierte Dr. Nilda Inkermann einen Überblick ihrer Dissertation zum Thema „Globale Bildung in der Transformation: Eine hegemonietheoretisch inspirierte Analyse der Transformationsverständnisse von Bildungsakteur*innen des Globalen Lernens“. Sie untersucht, wie Bildungspraktiken des Globalen Lernens in Macht- und Herrschaftsverhältnissen eingebunden sind und deren Stabilisierung sowie Reproduktion unterstützen. Gleichzeitig fragt sie nach der komplexen Beziehung zwischen Bildung und transformativen Prozesse. Dr. Inkermann systematisiert das Verhältnis von Globalem Lernen und Transformation in vier Dimensionen: Globales Lernen zu, als, in und für Transformation. Sie kritisiert ein eindimensionales Verständnis von Transformation, das Bildung lediglich als Mittel zur Erreichung vorgegebener Ziele sieht. Stattdessen plädiert sie für ein konfliktreiches, mehrdimensionales Verständnis von Transformation, das die Vielfalt an Perspektiven und Zielen berücksichtigt. Ihr Ziel ist es, Globales Lernen als einen kontinuierlichen Suchprozess zu begreifen, der sowohl Selbstveränderung als auch gesellschaftliche Transformation anstrebt. Sie fordert eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle von Bildung in den globalen Veränderungsprozessen und will einen Beitrag zu einer emanzipatorischen Praxis leisten, die nicht nur Lösungen vermittelt, sondern auch die gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsstrukturen hinterfragt.
In der anschließenden Diskussion wurde betont,Bildungsakteur*innen als aktiv gestaltende Teilnehmende Globalen Lernens zu verstehen, die in Transformationsprozesse eingebunden sind. Gemeinsam wurde diskutiert, ob der Transformationsbegriff das traditionelle Nachhaltigkeitskonzept ablösen könne, der als fortlaufender Anspruch verstanden wird, globale Verhältnisse grundlegend zu verändern. Die Forumsteilnehmenden hielten die Notwendigkeit fest, die eigene Involviertheit in Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu reflektieren, um transformative Bildungspraktiken weiterzuentwickeln.
Die weitere Diskussion ging auf die Verknüpfung von beruflicher Bildung und BNE ein und betonte die Notwendigkeit, Reformprozesse in bestehende Strukturen zu integrieren. Auch indigene Perspektiven sollten stärker berücksichtigt werden, um eurozentrische Sichtweisen zu hinterfragen. Dies könne helfen, die Individualisierungsfalle zu überwinden und kollektive Verantwortungsstrukturen sichtbar zu machen. Im abschließenden Teil wurde das Spannungsverhältnis zwischen Kontroversität und der Gleichberechtigung von Perspektiven in Bildungsprozessen thematisiert. Die Professionalisierung der PB soll dazu beitragen, demokratische Prinzipien in der Bildungspraxis zu stärken. Im Umgang mit kontroversen Themen im Unterricht wurden theoretische Ansätze, unter anderem von Johannes Drerup, herangezogen. Diskutiert wurde, wie Lehrkräfte sich innerhalb verschiedener Perspektiven von SuS orientieren können. Dabei wird auf den Ausbau von Moderationstechniken wie das Hinterfragen und Begründen von Argumenten verwiesen, wodurch Lernende sich mit der wissenschaftlichen Grundlager ihren eigenen Ansichten auseinandersetzen müssen.
Ein weiterer Fokus lag auf den Themen Wachstum und Degrowth – sowohl in wissenschaftlichen Debatten als auch im Bildungsbereich. Zwar finde Wachstumskritik zunehmend Gehör, werde aber häufig von dominanten Narrativen überlagert. In diesem Zusammenhang wurde hinterfragt, welche Wissensformen überhaupt als legitim gelten und ob Macht- und Herrschaftsstrukturen in wissenschaftlichen Diskursen ausreichend reflektiert werden. Die Gefahr besteht darin, dass bestehende Hierarchien und hegemoniale Perspektiven andernfalls reproduziert werden.
Der Wunsch nach Verstetigung des Forums zeigt auf, dass es in Zeiten multipler Krisen Räume für eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit transformativer Bildung benötigt. Das interdisziplinäre Zusammenspiel aus Sozialwissenschaft, Politikwissenschaft, Erziehungswissenschaft, Soziologie, NGO-Arbeit und Bildungspraxis wurde dabei als besonders bereichernd hervorgehoben.
Empfehlungen für vertiefende Literatur:
BNE Forum Schule
https://www.bne-portal.de/bne/de/bundesweit/gremien/forum-schule/forum_schule.html
Forum kritische politische Bildung (2015): Frankfurter Erklärung. Für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung. Online abrufbar unter: https://uol.de/f/1/inst/sowi/ag/politische_bildung/Frankfurter_Erklaerung_aktualisiert27.07.15.pdf
Greenpeace e.V.
https://www.greenpeace.de/
I.L.A.Kollektiv (Hrsg.) (2017): Auf Kosten Anderer? Wie die imperiale Lebensweise ein gutes Leben für alle verhindert. München: oekom.
I.L.A.Kollektiv (Hrsg.) (2019): Das Gute Leben für Alle. Wege in eine solidarische Lebensweise. München: oekom.
Inkermann, N. & Eis, A. (2022). Konzepte politischer Nachhaltigkeitsbildung. Bundeszentrale für politische Bildung. Online abrufbar unter: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/politische-bildung-2022/515537/konzepte-politischer-nachhaltigkeitsbildung/
Inkermann, Nilda (2024): Globale Bildung in der Transformation. Eine hegemonietheoretisch inspirierte Analyse der Transformationsverständnisse von Bildungsakteur*innen des Globalen Lernens. Wochenschau Verlag. Frankfurt am Main.
Kranz, Johanna; Schwichow, Martin; Breitenmoser, Petra; Niebert, Kai (2022): „The (Un)political Perspective on Climate Change in Education—A Systematic Review“ Sustainability 14, no. 7: 4194. https://doi.org/10.3390/su14074194
pollytix (2021): Gesellschaftliche Akzeptanz von Umwelt- und Klimaschutzmaßnahmen: Ergebnisse aus qualitativer und quantitativer Forschung im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit. Abschlussbericht. Online abrufbar unter: https://pollytix.de/akzeptanz-umweltpolitik/
Teachers for Future e.V.
https://teachersforfuture.org/
UNESCO Projektschulen
https://www.unesco.de/orte/projektschulen/das-netzwerk-der-unesco-projektschulen-in-deutschlnad/